@phdthesis{Fliegler, author = {Fliegler, Dominique}, title = {Kulturlandschaft als Palimpsest. Begreifen disparater Vergangenheiten}, doi = {10.25643/bauhaus-universitaet.3178}, url = {http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:wim2-20170508-31782}, school = {Bauhaus-Universit{\"a}t Weimar}, pages = {286}, abstract = {Das Waldhufendorf Nakl{\´e}řov (Nollendorf) geh{\"o}rt, wie eine Vielzahl weiterer Orte im bis 1945 haupts{\"a}chlich von deutschsprachiger Bev{\"o}lkerung besiedelten tschechischen »Grenzgebiet«, zu jenen Orten, die heute aus der Perspektive verschiedener Akteure als verschwunden oder untergegangen beschrieben werden. Auf Grund ihres allgegenw{\"a}rtigen fragmentarischen Erhaltungszustands und der oft fehlenden Bausubstanz scheinen sie bei einer oberfl{\"a}chlichen Schau nicht als Interessensgebiete der Denkmalpflege in Frage zu kommen. Untersucht man sie mit den wertneutralen Analyse- und Inventarisierungsverfahren der Angewandten Historischen Geografie, so kommt man zu einem differenzierteren Ergebnis, das zum einen die Darstellung als verschwundene Orte fragw{\"u}rdig erscheinen l{\"a}sst und zum anderen zu einer Neufokussierung des Aspekts der Abwesenheit aus denkmalpflegerischer Sicht f{\"u}hrt. Im Verlauf der Bestandsaufnahme der gegenw{\"a}rtigen materiellen Verfasstheit des paradigmatisch untersuchten Ortes, der Gesamtschau des Noch-Vorhandenen als komplexem Netz unterschiedlichster Indizien, die sowohl auf historische Tiefenschichtungen als auch auf Abwesenheiten verweisen, hat sich gezeigt, dass der Ort Nakl{\´e}řov {\"u}ber vielf{\"a}ltige Relikte und Spuren verf{\"u}gt, die auf seine Entstehung sowie unterschiedliche historische Epochen und Z{\"a}suren verweisen. Basierend auf dem Palimpsest als Vorstellungsger{\"u}st und der Spurensuche als Leitmotiv einer verr{\"a}umlichten Geschichtsschreibung f{\"u}hrte der am Ort erprobte mikrohistorische Blick zu einer gesch{\"a}rften Perspektive auf verborgene und verschwundene Schichten und Objekte, auf sich r{\"a}umlich ausdr{\"u}ckende Machtverh{\"a}ltnisse und politische Z{\"a}suren. Zur Veranschaulichung wurden verschiedene M{\"o}glichkeiten einer GIS-basierten kartografischen Erfassung aufgezeigt, die der Besonderheit einer Landschaft der Leerstellen des 20. Jahrhunderts mit der W{\"u}stung eines Ortes vor dem Hintergrund der Zwangsmigration der deutschen Bev{\"o}lkerung und des politischen Regimewechsels nach 1945 gerecht werden sollte. In Fortf{\"u}hrung der Denkanst{\"o}ße von Norbert HUSE, den denkmalpflegerischen Leistungsbegriff in Frage zu stellen und auch Orte der Abwesenheit hinsichtlich ihrer potentiellen Denkmalwertigkeit zu hinterfragen, sowie in Ankn{\"u}pfung an das Konzept der European Landscape Convention (2004), auch Landschaftssch{\"a}den und die Vergegenw{\"a}rtigung nicht mehr vorhandener Landschaftscharakteristika in die Inventarisierung einzubeziehen, wurde im Untersuchungsgebiet der Kartierung stark gesch{\"a}digter und verschwundener Bereiche und Objekte besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Den Ausgangspunkt bildete die Bestandsaufnahme der Kulturlandschaftselemente mit historischem Zeugniswert, die unabh{\"a}ngig von Kriterien wie Sch{\"o}nheit oder kunsthistorischer Wert erfasst wurden. Auf der Chronotop-Karte hingegen wurde die Genese des Ortes zur{\"u}ckverfolgt. Das gleichzeitige Nebeneinander ungleichzeitiger Elemente wurde in verschiedenen r{\"a}umlichen Ausschnitten hinsichtlich seiner Entwicklungsgeschichte analysiert, historisch kontextualisiert und auf Kontinuit{\"a}ten und Z{\"a}suren hin {\"u}berpr{\"u}ft. Dabei stand nicht die Eruierung eines kulturlandschaftlichen »Urtextes« im Fokus, sondern das Herausarbeiten von Zeitschichten. Eine Gr{\"u}ndung als Waldhufendorf von deutschen Siedlern um 1100, wie in den Dorfchroniken kolportiert, war nicht nachweisbar. Zu belegen ist, dass sich das im Kern mittelalterliche Dorf mit einer sp{\"a}testens in der ersten H{\"a}lfte des 17. Jh. planm{\"a}ßig angelegten Waldhufenstruktur bis zur Z{\"a}sur von 1945 {\"u}ber ca. 350 Jahre in dieser Form auch weiterentwickelt hat. Mit der Zwangsmigration der deutschsprachigen Bev{\"o}lkerung verschwand das »Pflegepersonal« der Kulturlandschaft. Auch durch die nachfolgende genossenschaftliche und milit{\"a}rische Nutzung ver{\"a}nderte sich der Ort fl{\"a}chendeckend. Die kleinteilige und durch pflanzliche Diversit{\"a}t gekennzeichnete Bewirtschaftung wich unter den neuen sozio-{\"o}konomischen Bedingungen einer monokulturellen Fl{\"a}chenbewirtschaftung. W{\"a}hrend die Teile des Flurbildes, die in funktionalem Zusammenhang mit der d{\"o}rflichen Siedlung standen, gr{\"o}ßtenteils verloren gegangen sind, wurde der Charakter des Verkehrskorridors hingegen noch verst{\"a}rkt. Der 1938 geplante Autobahnabschnitt auf der Trasse des pr{\"a}historischen Nollendorfer Passes wurde zu Beginn des 21. Jh. als Teil der A17 realisiert. Die zentrale Lage in einer Transitlandschaft erwies als entscheidend f{\"u}r die Entwicklung des Dorfes. Neben der Bedeutung als Handels- und Poststraße war die durch den Ort f{\"u}hrende Querung des Osterzgebirges milit{\"a}rstrategisch wichtig und wurde im Verlauf verschiedener Kriege sp{\"a}testens ab dem 11. Jh. bis 1945 rege genutzt. Mehrfach wurden Teile des Dorfes zerst{\"o}rt, doch im Gegensatz zur Z{\"a}sur nach 1945 erfolgte stets ein Wiederaufbau. Ernsthafte Bem{\"u}hungen einer Neubesiedlung im Zuge der Wiederbesiedlungspolitik im Grenzgebiet sind nicht zu verzeichnen. Vielmehr wurden fast 90\% des Geb{\"a}udebestands zwischen 1949-1964 als Abbruchh{\"a}user verkauft oder dem Verfall {\"u}berlassen. Heute existieren in Nakl{\´e}řov bauliche Zeugnisse in unterschiedlichen Erhaltungsgraden, die im Zusammenhang mit verschiedenen Phasen der Expansion, Stagnation und Regression in der Siedlungsentwicklung zu sehen sind. Die historische Bedeutung des Ortes ist nicht allein aus seiner fragmentarisch erhaltenen Geb{\"a}udesubstanz abzuleiten, sondern liegt in der Kontinuit{\"a}t der Geb{\"a}udestandorte und der Verbindung von Flur und Bauparzelle. In einem Waldhufendorf stellen die Lesesteinw{\"a}lle das materialisierte Ordnungsgef{\"u}ge dar. An ihnen wird der Dorfgrundriss mit seiner Parzellenstruktur erkennbar, der zur {\"a}ltesten materiellen geschichtlichen {\"U}berlieferung auf dem Lande geh{\"o}rt. Die bauliche Substanz tritt in ihrer Bedeutung in den Hintergrund, wird zum Inventar, das auf Grund besonderer Rahmenbedingungen ausgetauscht wird. Vielmehr ist es in Nakl{\´e}řov das durch die Lesesteinr{\"u}cken markierte Nichtmehrvorhandensein vieler baulicher Strukturen, das als Bestandteil des historischen Zeugniswertes des Ortes zu bewerten ist. Die Lesesteinr{\"u}cken sind nicht nur Spuren im Sinne von siedlungsgeschichtlich relevanten {\"U}berresten, sondern zugleich auch Spuren im Sinne von materiellen Anhaltspunkten, die Abwesenheit bezeugen und {\"u}ber das impulsgebende Potential verf{\"u}gen, diese Abwesenheit zu hinterfragen und dem spurenbildenden Geschehen nachzusp{\"u}ren. Das f{\"u}r Nakl{\´e}řov pr{\"a}gnante ubiquit{\"a}re Zusammenspiel von an- und abwesenden Objekten wurde auf einer eigens entwickelten, auch auf andere Orte (im Grenzgebiet) {\"u}bertragbaren Kartierung (KE) festgehalten, in der die Materialstr{\"o}me 1945-2012 dokumentiert wurden. Aktuell durch materielle Konstellationen markierte Orte der Leere wurden dechiffriert, indem Relikte nach Zeitschichten gestaffelt mit Visualisierungen verschwundener Objekte hinterlegt wurden. Die {\"u}ber materielle {\"U}berreste transportierte Erfahrung von Abwesenheit wird auch an scheinbar kontext- und funktionslosen Elementen deutlich. Dazu geh{\"o}rt in Nakl{\´e}řov z.B. ein Parkplatz, dessen Verwendungszweck zwar eindeutig ist, wohingegen sich seine Funktion an diesem Ort nicht ohne Hinzuziehung von Quellen erschließt. Ihn als Erwartungen st{\"o}rendes Element, dem eine »verd{\"a}chtige Abwesenheit« inh{\"a}rent ist, aufzufassen und als unabsichtliche Hinterlassenschaft zu hinterfragen, hat den Anstoß zur erinnerungskulturellen Dechiffrierung der banal anmutenden Fl{\"a}che gegeben. Das Weiterverfolgen seiner Spur hat verschiedene Strategien der Verdr{\"a}ngung von erinnerungsst{\"u}tzenden und wahrnehmungslenkenden Artefakten und Zeichensetzungen sowie das dynamische und teils antagonistische Beziehungsgeflecht der sich in diesem r{\"a}umlichen Ausschnitt befindlichen Objekte offengelegt. Neben Beschriftungen an einem Aussichtsturm und einem Schlachtendenkmal, deren Wechsel sich ver{\"a}ndernde gesellschaftspolitische Bedingungen des 20. Jh. reflektieren, ist es ein »dichter Ort«, dessen geografische Lage zum Versuch einer ged{\"a}chtnispolitischen Umcodierung und r{\"a}umlichen Verankerung eines neuen Geschichtsnarrativs gef{\"u}hrt hat. Der heute durch ein Holzkreuz markierte Ort war 300 Jahre lang Standort einer sakralen Landschaftsdominante, die 1975 in Vorbereitung der Installation eines Sowjetdenkmals gesprengt wurde. Die Planungsunterlagen belegen, dass ein Zulassen r{\"a}umlich sichtbarer Erinnerungskonkurrenzen auszuschließen war und eine politisch motivierte Neubesetzung des Ortes unter besonderer Ber{\"u}cksichtigung seiner in die Landschaft ausgreifenden Raumwirkung angestrebt war. Einer der wenigen materiellen {\"U}berreste, die auf die Geschichte zur Errichtung des gr{\"o}ßten Sowjetdenkmals in Nordb{\"o}hmen verweisen, ist der Parkplatz. Vor allem an diesem Beispiel hat sich auch gezeigt, dass der sich aus einem feinen Gespinst unterschiedlichster materieller Konstellationen zusammensetzende Ort als Geschichtsquelle nur bedingt anschaulich und »lesbar« ist. Neben die Bestimmung des historischen Zeugniswertes des Untersuchungsgebietes durch kartierte und »erz{\"a}hlte Geschichte« trat so zwangsl{\"a}ufig auch der Subtext einer Beschreibung des Prozesses der Spureninterpretation. Dieser »dichte Ort« ist heute ein Ort aktiver objektgebundener Gedenkpraktiken, der durch eine Koexistenz von Erinnerungsstr{\"a}ngen gekennzeichnet ist und von unterschiedlichen Akteuren genutzt wird. Die zweisprachige Tafel am Schlachtendenkmal, Pl{\"a}ne zur Wiedererrichtung des Aussichtsturms und zu Baumaßnahmen unter Ber{\"u}cksichtigung der historischen Siedlungsstruktur deuten auf eine wachsende Akzeptanz des kulturhistorischen Erbes der deutschsprachigen Bev{\"o}lkerung hin. Auch verschiedene tschechische Projekte zur Dokumentation des Grenzgebiets, einschließlich der Erfassung dessen, was zerst{\"o}rt oder nur noch in {\"U}berresten vorhanden ist, belegen die Bereitschaft, sich mit der Geschichte der Landschaft auseinanderzusetzen. Orte, an denen die Erfahrung von Abwesenheit und Leere auf den fl{\"a}chendeckend offensichtlichen Bruch im Grenzland verweist, beinhalten das Potential als »storyscape« zu fungieren und ein an den Raum r{\"u}ckgebundenes Erz{\"a}hlen von erinnerungskulturell und sozial bedeutsamen »Geschichten« zu initiieren. Der m{\"o}gliche Denkmalwert eines Ortes wie Nakl{\´e}řov als repr{\"a}sentativer und zugleich singul{\"a}rer Bestandteil einer historischen Kulturlandschaft besteht in seinem Verm{\"o}gen, Fragen aufzuwerfen und eine Besch{\"a}ftigung mit der Geschichte des Ortes im lokalen, regionalen und europ{\"a}ischen Kontext einzuleiten. Das denkmalpflegerische Kriterium der Leistung manifestiert sich nicht im Objekt, sondern im Potential eines bestimmten r{\"a}umlichen Ausschnitts, erinnerungskulturelle Prozesse und angesichts »umstrittener« oder »geteilter« Objekte und Orte Dialoge in Gang zu setzen. Ein Ort, dessen historischer und erinnerungskultureller Wert aus dem Spannungsfeld zwischen an- und abwesenden Elementen, zwischen Leerstellen und Relikten resultiert, f{\"u}hrt an die Grenzen traditioneller Denkmalbegrifflichkeiten, ist aber auf der Basis der Zusammenschau verschiedener theoretischer und praktischer Ans{\"a}tze der Denkmalpflege, die unter dem Begriff »unbequeme Kulturlandschaft« zu subsumieren sind, in seiner potentiellen Denkmalw{\"u}rdigkeit zu diskutieren. Die Grenzen dessen, was Denkmal sein kann, sind zwar seit den 1970er Jahren r{\"a}umlich, substanziell und ideell durchl{\"a}ssiger geworden, werden aber immer noch von Anspr{\"u}chen an die materielle Substanz des Denkmals und an das Denkmal als Zeugnis von Leistung markiert. Auch HUSE sieht in der Bindung der Denkmalpflege »an die materielle Spur« sowohl eine St{\"a}rke als auch eine Schw{\"a}che: »Wo es diese nicht mehr gibt, kann es auch keine Denkmalpflege mehr geben.« Aber Denkmalpflege kann es auch dort geben, wo die Spur in existentieller Abh{\"a}ngigkeit vom Vorhandensein der sie umgebenden Substanz als interpretationsoffenes Zeitfenster im Raum verstanden wird. Die Spur ist an das Vorhandensein von materieller Substanz gebunden, denn ohne diese w{\"a}re die Spur weder pr{\"a}sent noch wahrnehmbar. Spuren sind dergestalt als Ensembles zu begreifen, die aus einer Leerstelle sowie der sie umgebenden, sie hervorbringenden und auf sie verweisenden materiellen Umgebung bestehen. F{\"u}r den Denkmalpfleger als Spurenleser st{\"u}nde somit das sich {\"u}ber das Materielle ausdr{\"u}ckende Spannungsfeld zwischen Absenz und Pr{\"a}senz im Fokus, das unter den Vorzeichen des Erinnerns und Vergessens f{\"u}r den kulturwissenschaftlichen Erinnerungs- und Ged{\"a}chtnisdiskurs von Bedeutung ist. Ein umfassender Spurenbegriff w{\"a}re dem Substanzbegriff als Korrektiv zur Seite zu stellen, mit dem Potential, auf Abwesenheit als Resultat von destruktiven Einwirkungen hinzuweisen, Fragen auch nach (un)freiwilligen Zeugnissen, Kontexten, Ursachen, Menschen und ihrem Handeln aufzuwerfen, und dabei dennoch den Konnex zum Materiellen halten zu k{\"o}nnen. Ein Spurenbegriff, der {\"u}ber das Oszillieren der Spur zwischen {\"a}sthetischem und historischem Wert hinausgeht, verweisend auf tiefgreifende Verluste und Zerst{\"o}rungsprozesse, scheint dazu geeignet, die Funktion des Denkmals auch als »Erinnerung an Br{\"u}che, Unsch{\"o}nes und Schwieriges, an Niederlagen und Irrwege, aber auch an Alternativen« zu st{\"a}rken, die denkmalpflegerische Kanonbildung sowie Kernbegriffe der Disziplin wie Substanz und Leistung hinsichtlich ihrer generellen Anwendbarkeit auf die bestehende und potentielle Denkmalwelt zu hinterfragen. Orte und Objekte abseits traditioneller Vorstellungen vom Denkmal erfordern eine Neufokussierung des Substanzbegriffs, um eine komplexere und vielschichtige, auch konfligierende Deutungen zulassende Kultur- und Geschichtsbetrachtung zu erm{\"o}glichen. Eine Denkmalpflege als wissenschaftlich verankerte Disziplin, die sich mit ihren vielf{\"a}ltigen materialbasierten und verorteten Medien der Erinnerung, st{\"a}rker in den f{\"a}cher- und l{\"a}ngst auch grenz{\"u}bergreifenden Erinnerungsdiskurs einbringen will, braucht zu Beginn des 21. Jh. nach den Verwerfungen des 20. Jh. noch andere Orientierungspunkte, um sich auch in disparaten, auch von Destruktion gepr{\"a}gten Kulturr{\"a}umen bewegen zu k{\"o}nnen.}, subject = {Kulturlandschaft}, language = {de} }